Die Wirkung der „Falschwörter“

Auch Krisenzeiten müssen in Worte gefasst werden. Welche Wirkung entfaltet Sprache dabei? Welche Gefahren verbergen sich zwischen den Zeilen? Der ehemalige Deutschlehrer Michael Heijnsbroek beleuchtet in diesem Blog die Rolle der Sprache in schwierigen Zeiten.

Fangen wir mal mit einem Zitat der österreichischen Autorin Marlen Haushofer (1920-1970) an:

„Irgendwo las ich, dass man sich an alles gewöhnen könne, und Gewohnheit die stärkste Kraft in unserem Leben sei. Ich glaube es nicht. Es ist nur die Ausrede, die wir gebrauchen, um nicht über die Leiden unserer Mitmenschen nachdenken zu müssen, ja, um nicht einmal über unsere eigenen Leiden nachdenken zu müssen. Es ist wahr, der Mensch kann vieles ertragen, aber nicht aus Gewohnheit, sondern weil ein schwacher Funke in ihm glimmt, mit dessen Hilfe er in aller Stille hofft, eines Tages die Gewohnheit zerbrechen zu können.“

(Aus: Wir töten Stella, Verlag Jungbrunnen, Wien-München, S.9f.)

An dieser Stelle ließe sich auch auf Noam Chomskys „Aufschub von Änderungen“ aus „10 Strategien der Massenmanipulation“ (2011) verweisen. Er zielt darauf ab, die Gesellschaft glauben zu lassen, dass eine Maßnahme ergriffen wird, die zwar eine gewisse Zeit lang Schaden mit sich bringe, aber im Hinblick auf die Zukunft der gesamten Gesellschaft und dem Einzelnen große Vorteile bringen könne. Ziel ist, dass sich Menschen an die Maßnahmen gewöhnen, weil sie sich auf das Endergebnis richten, auf Hoffnung in der Ferne. Also doch ein „Sich-gewöhnen“ nach Haushofer?

Die Kraft der Sprache

Auch der deutsche Schriftsteller Wolfgang Borchert (1921-1947), der an seinen schweren Kriegsleiden im Alter von nur 26 Jahren in einem Baseler Sanatorium starb, besaß – wie Haushofer – die Kraft der Worte. Viele sagen, dass Borchert der Erste gewesen sei, der die Sprache nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges wieder zurückfand, denn kaum einer war in der Lage, die Schrecken des Geschehens in Worte zu fassen. In seinem ursprünglichen Hörspiel „Draußen vor der Tür“, das einen Tag nach seinem Tode als Theaterstück in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt wurde, gelang es Borchert, mit seinen Worten dem anwesenden Publikum einen unauflösbaren Eindruck zu vermitteln. Es ist auch heute noch weltweit eines der meist gespielten Theaterstücke.

Der „falsche” Freund

Besonders in Zeiten einer Krise sollte man – vor allem in der Öffentlichkeit – ganz genau auf die Sprache und die Wahl der richtigen Worte achten. Im heutigen Kontext benutzt man z.B. Lehnwörter wie social distancing aus dem Englischen. In seiner Herkunftssprache steht das Wort social eher für „gesellig“ (denke an social media), während es im Deutschen viel eher mit Solidarität, Verantwortung und Fürsorge im Zusammenhang steht. „Soziale Distanz“ als direkte Übersetzung des Englischen hat im Deutschen also einen ganz anderen Inhalt, denn mit „sozialer Distanz“ vermittelt man ein völlig falsches Signal. Es kann gerade in der jetzigen Krise dazu führen, dass viele Menschen sich durch die falsche Verwendung solcher Begriffe noch weiter ausgegrenzt fühlen. In der Linguistik spricht man in solchen Fällen vom „falschen Freund“ und der Psychologe, Mathematiker und Philosoph Rainer Mausfeld nutzt den Begriff „Falschwörter” (Newspeak), der in die gleiche Richtung weist. Falschwörter vermitteln einem eine Art Aberglaube, durch den Interessengruppen versuchen, das Denken der Masse in eine bestimmte Richtung zu lenken. Beispiele solcher Wörter sind „Kollateralschaden“, „Rettungsschirm“, „Freihandel“, „Friedenstruppe“ usw.

Sprache als Mittel zum Zweck

Die Rolle, die die Sprache in unserer Gesellschaft einnimmt, ist eine äußerst wichtige. Hieß es zu Zeiten des Kolonialismus noch: „Wer die Weltmeere beherrscht, beherrscht die Welt”, so gilt heute die Sprache als wichtigstes Herrschaftsinstrument.

Blicken wir noch auf die Rolle des Bildes in der Sprache. In einem früheren Blog wurde die Rolle der Körpersprache bereits erwähnt. Die Sprache des Bildes spielt jedoch eine noch viel größere Rolle. Es heißt: Ein Bild sagt mehr aus als 1.000 Worte. Das Zusammenwirken von Sprache und Bild hat vor allem in Nachrichtensendungen eine starke Aussagekraft: Schlagzeile, Filmausschnitt, Foto usw. haben einen vehementen emotionalen Einfluss auf die Zuschauer. Das, was man sieht, bringt in Kombination mit dem zugehörigen Text eine Verbindung zustande, die man so schnell nicht mehr vergisst. Der Blauhelmsoldat, der ein gerettetes Kind aus den Trümmern trägt, bleibt beim Betrachter quasi ewig vor Augen. Die Zuschauer fühlen sich in die Rolle des Soldaten ein, was eine so starke Emotionalität hervorruft, als würde man selber handeln.

Meinen wir dasselbe?

Außerdem erwähnenswert ist der Unterschied im Sprachgebrauch zwischen „Männchen und Weibchen“. Wohl wir alle haben schon einmal den Satz gehört: „Sag doch gleich, dass du das damit meintest!“

Neuere Erkenntnisse der Gehirnforschung werden in diesem Forschungsgebiet ebenso berücksichtigt wie soziologische Aspekte. Neurologen haben herausgefunden, dass Männer überwiegend die linke – vorwiegend analytische – Gehirnhälfte aktivieren, wenn sie sprechen, Frauen hingegen beide Gehirnhälften. Das heißt, dass Frauen sowohl die eher analytische linke als auch die emotionalere rechte Gehirnhälfte beim Sprechen nutzen. Das bringt einen emotional geprägten weiblichen Sprachstil mit sich und kann unter anderem dazu führen, dass Männer bei Prüfungen mit Mehrwahlfragen besser abschneiden als Frauen. Eben wegen der vorwiegend analytischen Herangehensweise, die Männern demnach mehr entspricht. Bei Frauen merkt man bei Mehrwahlfragen oft Zweifel: „Ja, aber Antwort c könnte auch richtig sein.“ Bei offenen Fragen hingegen schneiden Frauen häufig besser ab, da Männer es eher als „lästig“ empfinden, die Antwort richtig in Worte fassen zu müssen.

Das habe ich am Gymnasium und an der Hochschule des Öfteren beobachten können. Dieselbe Wortform kann durchaus mit unterschiedlichem Inhalt gefüllt werden, nicht nur im Hinblick auf die Geschlechter. Auch in andere Kulturen oder Gebieten kann dasselbe Wort eine ganz andere Assoziation hervorrufen: So wird zum Beispiel der Begriff „Haus“ in unterschiedlichen Teilen und Kulturen der Welt andere Verbindungen und Bilder bei den Menschen hervorrufen als in Deutschland. Darüber hinaus verändert sich Sprache mit der Zeit. Alles ist ständig in Bewegung (omnio motio est), wie Leibnitz bereits im 17. Jahrhundert zu sagen pflegte. 

Der Autor

Michael Heijnsbroek war jahrelang als Deutschlehrer in den Niederlanden tätig. Auch im Ruhestand lässt ihn die Faszination für die deutsche Sprache und die Freude am Unterrichten nicht los. Daher bietet er weiterhin verschiedene Sprachkurse sowie Workshops im Bereich deutsche Kultur und Geschichte an. Michasdeutschinfo sorgt dafür, dass Lernende sprachlich stets auf dem Laufenden bleiben. Mit oder ohne „Falschwörter“.

Michael Heijnsbroek